6. Die Stakeholder-Phase oder Reinventing SupplyChain

Die „Stakeholder-Phase“ oder Phase der „Reinventing Supply-Chain“ ist eine Unternehmensphase, die das Unternehmensverständnis und das Verständnis der Supply-Chain revolutioniert. Denn in dieser Phase wird die Lieferkette so stark integriert, dass das traditionelle Verständnis der Unternehmensgrenzen nicht mehr funktioniert. Lieferanten und Kunden haben so starken Einfluss auf die traditionellen Aufgaben eines Unternehmens, dass sie vom Unternehmen nicht mehr wirklich abgegrenzt werden können, sondern zu einem Teil des Unternehmens werden. Tofflers (1983) bezeichnete die Verschmelzung von Produzenten und Konsumenten als „Prosumenten“.

 

Tapscott und Williams (2006) beschreiben Peer-Production als „Produktion unter Gleichgestellten“. In ihrer reinsten Form ist es eine Art Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die ganz auf selbstorganisierenden, egalitären Gemeinschaften von Individuen beruht, die freiwillig zusammen kommen, um an einem gemeinsamen Produkt zu arbeiten. Tapscott und Williams nennen die Phase daher das „Zeitalter der Partizipation“, das jetzt begonnen hat. Ermöglicht durch neue, kostengünstige Infrastrukturmöglichkeiten für Kooperation, von kostenloser Internet-Telefonie über Open-Source-Software bis zu globalen Outsourcing Plattformen, die es abertausenden von Einzelpersonen und Kleinunternehmern erlauben, gemeinsam zu produzieren, Märkte zu erschließen und die Konsumenten in einer Weise zu erfreuen, wie es in der Vergangenheit nur große Konzerne konnten. Für die Zukunft prognostizieren sie: „Firmen, die darauf vorbereitet sind, eröffnen sich neue Chancen, die anderen werden untergehen“.

 

In dieser Phase geht es um die Peer-Production, die auf Gegenleistung basiert. Es sind „Peer-to-Peer Markets“ wie eBay, Uber, und airbnb. Aber auch Foodcoops oder der Cola Hersteller Premium. Weil all diese Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem heutigen Unternehmensverständnis nicht vereinbar sind, bezeichne dieses Phänomen deshalb als „neue“ Unternehmen. Diese Organisationsform übernimmt bei diesen „neuen“ Wirtschaftsphänomenen die wesentliche Leistungserstellung der traditionellen Unternehmen.


Beispiele dieser Unternehmensform

Am Beispiel des Verkaufs von Second Hand Gegenständen möchte ich die Kernpunkte dieser Phase verdeutlichen. Zuerst am Beispiel eBay, bei dem ich nicht nur das Unternehmen eBay Inc., sondern auch die durch die Plattform erzeugte Leistung einbeziehe. Bei diesem neuen Verständnis von Unternehmen sind die Lieferanten nicht mehr nur Lieferanten; eBay als Phänomen erstellt als Unternehmen nicht mehr im traditionellen Sinn die wesentliche Leistung für den Kunden und der Kunde ist nicht mehr nur Kunde. Bei eBay entscheidet der Lieferant, was verkauft wird, und nicht der „Leistungsersteller“. Welcher Preis gezahlt wird, entscheiden „Kunden“ und „Lieferanten“ gemeinsam oder nur die „Kunden“. eBay bietet dabei nur den Raum für den Kontakt an und setzt weite Grenzen, meist nur aufgrund von Gesetzen.

 

Sehr ähnlich sind der neue Taxidienst Uber oder die Mitfahrgelegenheit BlaBlaCar. Uber drängt auf den traditionellen Taxi-Markt und vermittelt Mitfahrgelegenheiten für Kurzstrecken, die Mitfahrzentrale BlaBlaCar agiert im Personentransport für weite Strecken und konkurriert damit mit dem öffentlichen Fernverkehr. Durch ohnehin getätigte Fahrten von Privatleuten können die Kosten eines Personentransports radikal reduziert werden. Auch dabei verschwimmen die Grenzen von Lieferant, Leistungsersteller und Kunde. 

 

Bei diesen Unternehmen kann fast jeder mitmachen und selbstständig Entscheidungen im Rahmen des Unternehmens treffen. Das gibt den Beteiligten die große Freiheit der Selbstständigkeit, geht aber auch mit einem großen Risiko einher, denn es gibt keine Sozialversicherung oder Krankenversicherung.

Da wird viel Verantwortung auf den einzelnen verlagert, die Mitarbeiter werden zu Unternehmern und Entscheidern gemacht, was mit Verantwortung für Versicherung, Vorsorge und Ausbildung einhergeht. Auch hier geht mit der höheren Effizienz eine höhere Volatilität für die Beteiligten einher, die gesellschaftlich noch nicht kompensiert ist. Selbstständige trifft das allerdings schon lange. Stellt man sich einmal vor, AirBnB wird durch ein gemeinnütziges Portal kopiert und ersetzt, könnten die Beteiligten von den Effizienzsteigerungen alle profitieren und sich ein festes (Grund-) Einkommen ermöglichen. Was bei AirBnB und Uber noch fehlt, ist eine koordinierende Rolle, die den Austausch zwischen den Stakeholdern gestaltet. So kommt es in manchen Regionen zu negativen Auswirkungen, wie die Verdrängung von Wohnraum durch AirBnB oder die wirtschaftliche Bedrohung von Taxifahrern durch Uber. 

 

Ein weiteres Beispiel dieser Phase ist der Cola-Hersteller Premium.  Bei Premium wurden viele der genannten Kritikpunkte schon umgesetzt. Premium wäre als traditionelles Unternehmen ein Getränkehersteller, allerdings besitzt Premium weder Produktionsanlagen, noch Logistik oder sonstige Produktionsmittel, es besteht aus einer Gruppe von Menschen, die den Herstellungs- und Vertriebsprozess von Getränken der Marke Premium organisiert. Premium beschreibt seine Arbeitsweise einerseits basierend auf maximalem Outsourcing, weil Produktion, Logistik und Handel von selbständigen Partner-Unternehmen erledigt werden, andererseits aber als maximales Insourcing, weil alle Beteiligten inklusive der Endkunden bei allen Fragen der gesamten Organisation und der Konditionen gleichberechtigt mitreden. Die Summe der Beteiligten bezeichnen sie als das „Premium-Kollektiv“, durch das alle Entscheidungen in der Regel per Mail beschlossen werden. Dabei kann das Kollektiv einzelne Befugnisse auf bestimmte Kollektivisten übertragen, sie diesen aber auch wieder entziehen oder Änderungen verlangen. Jeder Kollektivist darf bei den zentralen Entscheidungen des Unternehmens mitbestimmen und hat sogar ein Veto-Recht. Das basiert ihrer Ansicht nach darauf, dass alle Menschen in einer Gesellschaft gleich-„wertig“ und wichtig sind und man deshalb auf alle Menschen gleichermaßen achten soll. Daraus schlussfolgern sie Entscheidungen im Konsens zu treffen und ein für alle gleiches Lohnniveau. 

 

Ihre „Konsensdemokratie“ machen sie, um alle Interessen in den Entscheidungen des Unternehmens zu berücksichtigen. Alle stimmen ihrer Ansicht nach zu, wenn alle Beteiligten sich einig sind oder einer Lösung zustimmen, mit der sie leben können. Eingeschränkt wird ihre „Konsensdemokratie“ nur durch ein Recht des Eigentümers im „Notfall“ selbst zu entscheiden. Wobei diese Situation seit der Gründung 2001 erst zweimal vorkam. Bei Premium haben sich über die Jahre gewachsene „Zuständigkeiten“ entwickelt, deshalb haben einzelne Kollektivisten den Freiraum in gewissen Grenzen selbst zu entscheiden, diese können aber von den anderen immer wieder eingeschränkt werden. Das macht, dass sie die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigten. Die tägliche Arbeit kann somit teilweise wie die in einem «normalen» Unternehmen funktionieren, allerdings nicht wie bei einem traditionellen Getränkehersteller, denn ein Büro gibt es nicht. Eine weitere Besonderheit ist, dass Premium keine Verträge unterschreibt. Das beschreiben sie als Erfolgskonzept, denn ohne schriftlichen Vertrag hätten alle Partner ein noch stärkeres Interesse, die jeweils andere Seite fair zu behandeln, weil jeder jederzeit aussteigen kann. Das gelte auch für Premium selbst, so sind die Kollektivisten nie an Partner gebunden, von denen sie sich trennen wollen. Das habe zu einer sehr stabilen Struktur mit jahrelangen Partnerschaften geführt.

 

Im Bereich Ökonomie ist die grundlegendste Abweichung von traditionellen Unternehmen, dass Premium keinen Gewinn machen möchte. Weil Gewinn ihrer Meinung nach immer auf Kosten von anderen Beteiligten geht: „Entweder auf Kosten der Kunden, durch einen überhöhten Verkaufspreis oder auf Kosten der Lieferanten durch einen zu geringen Einkaufspreis“. Auch daran erkennt man die radikale Stakeholder Orientierung, die über einer ökonomischen Orientierung steht.

 

Premium will die Arbeit der Kollektivisten entlohnen. Manchen bezahlen sie einen Lohn, obwohl sie auch kostenlos für die gute Sache arbeiten würden. Die Mitarbeiter würden diese geschenkte Arbeit teilweise auch höher schätzen als die mit einem Lohn. Premium möchte aber „die Grenze zur absichtlichen oder unabsichtlichen Ausbeutung“ nicht versehentlich überschreiten. Außerdem möchten sie einen Beweis der Vereinbarkeit von Wirtschaft und Moral erbringen, was sie durch geschenkte Arbeit mangels Vergleichbarkeit in Gefahr sehen. Damit grenzt Premium sich noch von der nächsten Unternehmensphase ab, die gerade auf der geschenkten Arbeit basiert. Die „Kollektivisten“, die ihre Arbeit auch schenken würden, sind offenbar schon für die nächste Stufe bereit. Es zeichnet sich eine Entwicklung dahin schon ab, denn eine Verpflichtung zur Annahme einer finanziellen Gegenleistung ist ein deutliches Zeichen für den Übergang zur Geschenkökonomie.

 

Ein weiterer Aspekt zeigt, dass sich bei Premium eine Entwicklung in die nächste Phase abzeichnet, nämlich die Arbeit für die Gesellschaft als ein außer-ökonomisches Ziel. Premium Gründer Lübbermann nennt es „den Kapitalismus reparieren“. Wenn es Premium aber nur um die Gesellschaft ginge, müssten sie den Verkauf von Cola unter Umständen einstellen. Deshalb sind sie noch eindeutig dieser Phase zuzuordnen.

Premium bezeichnet seine Regeln als „Betriebssystem“, das sie hier online veröffentlichen und das kostenlos von anderen kopiert werden kann.

Einordnung der Phase

Diese „neuen“ Unternehmensformen sind bislang wenig erforscht und in der traditionellen Betriebswirtschaftslehre noch nicht angekommen. Wie und ob die traditionellen Theorien und Konzepte auch für die neuen Unternehmensformen passen, muss noch geklärt werden. Nicht direkt anwendbar ist beispielsweise der berühmte Marketing-Mix aus Preispolitik, Produktpolitik, Vertriebspolitik und Kommunikationspolitik. Denn das ehemals fokale Unternehmen, die eBay Inc, setzt keine Preise auf ihrer Plattform fest, erstellt selbst keine Produkte und braucht deshalb keinen Vertrieb und wenig Kommunikation. Auch die „neuen“ Leistungsersteller, betrachtet man die Privatanbieter, setzen ihre Preise in der Regel nicht fest, denn sie entstehen durch ein Bieterverfahren. Die Produktpolitik, Vertriebspolitik und Kommunikationspolitik sind für Privatanbieter banal. Durch die Peer-to-Peer Produktion verliert die Produktionstheorie ihre Bedeutung; das strategische Management und das zentrale Controlling werden dezentralisiert und damit banalisiert. Ohne hierarchisches Leadership verliert auch die traditionelle Führungstheorie ihre zentralen Akteure und damit die Grundlage ihrer Annahmen.

 

Die von Laloux beschriebene Notwendigkeit, dass Top-Management und Eigentümer von dem Unternehmensverständnis überzeugt sind, gilt für Stakeholder Unternehmen nicht. Denn in einem Unternehmen dieser Phase sind die Rollen und Befugnisse eines jeden Mitglieds gesetzlich oder durch Vereinbarung festgelegt und könnten nur durch gemeinsame Entscheidung verändert werden. Die Funktion des Eigentümers von Stakeholder Unternehmen müsste im Prinzip eine einflusslose Rolle sein, denn wenn alle hierarchiefrei mitbestimmen können, hat keiner ein auf Eigentum basierendes Sonderrecht. Bei Premium spielt Eigentum keine zentrale Rolle.


Diese soziale Struktur im Unternehmen dieser Phase ist mit dem Alter eines Menschen ab 70 Jahren vergleichbar.



Die Krise der Phase

Unternehmen dieser Phase kommen in die Krise, wenn sich ihr Unternehmenskonzept aus der Stakeholder-Phase etabliert hat und ihre Vision mit der Wirklichkeit kollidiert. Bei Premium ist die Vision „den Kapitalismus reparieren“. Um diesem Ziel noch näher zu kommen, könnte beispielsweise bei Premium die grundlegende Frage aufkommen: „Können wir den Kapitalismus ohne Cola besser reparieren?“. Denn sie stellen das bisherige Selbstverständnis in Frage und lenken die Aufmerksamkeit auf das bisher ungelöste Konsistenzproblem zwischen Vision und Wirklichkeit. Entweder müsste dann die Vision angepasst werden oder das Unternehmen.

 

Gleiches gilt für eBay, deren Vision ist: „Wir wollen der beliebteste Ort auf der Welt sein, wenn es um grenzenlose Auswahl und echten Mehrwert geht. [...] Wo die Welt einkauft, verkauft und Gutes tut – da ist eBay“. Wenn bei eBay das Ziel „Gutes“ zu tun, zunehmend ernsthaft verfolgt wird, würden die Verkäufer wissen wollen, ob sie durch den Verkauf etwas „Gutes“ tun und ihre Habseligkeiten nicht mehr in einen anonymen Markt verkaufen. Die sich rasant verbreitenden Verschenkungsplattformen wie "freeyourstuff" zeigen das Phänomen eBay in der nächsten Phase.

 

Auch am Beispiel von airbnb lässt sich die nächste Phase schon in der Praxis erkennen, denn in diesem Bereich gibt es ein sehr ähnliches „Unternehmen“, die Plattform „Couchsurfing“. Auf dieser Plattform ermöglicht man sich gegenseitig, kostenlos bei einander zu übernachten. Das Motto von airbnb ist „Willkommen zu Hause“ und sie sprechen vom Gastgeber. Die Rolle von Gast und Gastgeber unterscheidet sich aber von der Rolle des Auftraggebers und des Auftragnehmers. Wenn Gäste und Gastgeber sich wirklich wie zuhause fühlen wollen, wird die Auftraggeber-Auftragnehmer Beziehung hinterfragt werden. In einer Situation, in der airbnb einmal etabliert ist, könnte es so in die Krise kommen und sich in Richtung „Couchsurfing“ weiterentwickeln.