5. Reinventing Organizations oder Hierarchiefreie Phase

Selbstverwaltung, Ganzheitlichkeit und einen evolutionären Sinn beschreibt Laloux als zentral für hierarchiefreie Unternehmen, die er in seinem Buch Reinventing Organizations erklärt.

 

Selbstverwaltung erklärt er als eine besonders effektive Arbeitsweise für Organisationen mit einem System, das auf Kollegen-Beziehungen basiert und ohne Hierarchie und Konsens auskommt.

 

Ganzheitlichkeit bedeutet für Laloux das Offenbaren größerer Teile der privaten Persönlichkeit im Arbeitsleben, nicht nur ihren professionellen Anteil. Organisationen des integralen evolutionären Paradigmas haben Rahmenbedingungen geschaffen, die zum Offenbaren der Persönlichkeit einladen.

 

Den evolutionären Sinn beschreibt Laloux als den, dem „Unternehmenswesen eigenen Richtungssinn“. Anstatt die Zukunft vorherzusagen und zu versuchen, sie zu kontrollieren, sollen die Mitglieder in die Organisation hineinhören und verstehen, was die Organisation werden will und welchem Sinn sie dienen mag.

 

Diese drei Besonderheiten zeigen sich laut Laloux durch eine Vielzahl von Praktiken und Verhaltensweisen, die sich teilweise subtil und teilweise radikal von denen traditioneller Managementmethoden unterscheiden. Zur erfolgreichen und dauerhaften Gestaltung eines integralen evolutionären Unternehmens sieht Laloux zwei notwendige Voraussetzungen. Einerseits, dass der Gründer oder das Top Management eine integrale evolutionäre Weltsicht haben müssen. Hilfreich sei es außerdem, wenn zusätzlich andere Führungskräfte eine solche Weltsicht haben. Andererseits, dass die Eigentümer der Organisation eine integrale evolutionäre Weltsicht haben. Sonst könne in einer Krisenzeit die integrale evolutionäre Unternehmensgestaltung wieder abgeschafft werden.


Selbstorganisation

Selbstorganisation bedeutet für Laloux, dass in integralen evolutionären Unternehmen Teams wie kleine Business-Units funktionieren, die viele Aufgaben selbst übernehmen, die vorher im Unternehmen verteilt waren. Im Team gibt es keinen Vorgesetzten, wichtige Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Anstatt eines Vorgesetzten wählen Teams vor wichtigen Sitzungen einen Prozessbegleiter aus dem Team aus, der die Sitzung moderiert. Wenn ein Team nicht zu einem Ergebnis kommt, kann es externe Berater als Prozessbegleiter hinzuziehen. Trotzdem sind nicht alle Teammitglieder gleich gestellt, es entstehen spontane, wechselnde Hierarchien aufgrund von Erkenntnis, Einfluss und Fähigkeiten. Beim holländischen Pflegedienst Buurtzorg gibt es kein mittleres Management, auch keine regionalen Manager, sondern regionale Coachs ohne Entscheidungsbefugnis und ohne Verantwortung für die Team-Ergebnisse. Um die Macht der Teams nicht zu beschränken verzichtet Buurtzorg auch auf ein Leitungsteam, die Regional-Coachs treffen sich nur vierteljährlich zum offenen Austausch.

 

Um das Bewusstsein über die Entscheidungsfähigkeit der Mitarbeiter zu stärken, stellt sich der CEO bei dem Unternehmen FAVI, einem französischen Automobilzulieferer, selbst zur Disposition, alle fünf Jahre können die Mitarbeiter ihren CEO wählen. 

In Laloux´s integralen evolutionären Unternehmen setzen sich Teams ihre eigenen Ziele und sind stolz darauf, sie zu erreichen. Wenn ein Team-Mitglied sich hängen lässt, lassen die anderen es schnell wissen, was sie davon halten. Dieses Vertrauen setze ungeheure Energie frei. Um entstandene Konflikte frühzeitig zu klären, haben einige Unternehmen spezielle Meetings, beispielsweise nutzt das Unternehmen Heiligenfeld, eine deutsche Klinik für Psychosomatik, eine sogenannte Heatmap, in der die Teams die Spannungen mit anderen Teams offenbaren.

 

Statt aufwendiger Entscheidungsfindung im Headquarter werden die Entscheidungen von freiwilligen Task Forces getroffen, die aus Experten aller Ebenen bestehen. Diese würden die Verantwortlichkeit steigern, die Leidenschaft beim Arbeiten fördern und besonders effektives Lernen ermöglichen. Deshalb gibt es in integralen evolutionären Unternehmen weder Organigramm noch Stellenbeschreibung und Jobtitel. Um die Aufgabenverteilung im Unternehmen zu verbessern, hat das Unternehmen Holocratic One, eine amerikanische Unternehmensberatung, einen „Role Market Place“ geschaffen, eine Möglichkeit für Mitarbeiter die eigenen Rollen und Aufgaben insofern zu bewerten, ob eine ihrer Rollen ihnen „Energie gibt oder entzieht“ und ob sie ihre Talente dafür einsetzen können. Auch Rollen, die derzeit andere Mitarbeiter ausführen, können sie bewerten und dadurch ihr Interesse am Rollentausch bekunden. So können immer die Leute die Aufgaben erledigen, die am meisten Leidenschaft für sie haben. Entlassungen kämen seltener vor, da die Rollen gewechselt und der eigene Job an die Fähigkeiten und Interessen angepasst werden können.

 

Auch der Prozess der Mitarbeitergewinnung unterscheide sich in integralen evolutionären Unternehmen deutlich von dem in traditionellen Unternehmen, so würden die neuen Mitarbeitenden nicht von der Personalabteilung, sondern von zukünftigen Teammitgliedern ausgewählt. Die Einarbeitungszeit sei ausführlicher als sonst, weil die neuen Mitarbeiter ein ausführliches Bild vom Unternehmen bekommen sollen, so sollen beim Automobilzulieferer FAVI alle Ingenieure und Verwaltungsmitarbeiter mindestens eine Maschine am Fließband bedienen können.

 

Auch die Gehaltsbestimmung sei in diesen Unternehmen anders. Die Unternehmen Gore Tex, ein amerikanischer Outdoor Ausstatter, und Holocracy One nutzen zur Festlegung des Gehalts ein gegenseitiges Ranking der Mitarbeiter, bei AES, einem globalen Energieerzeuger, legt jeder Mitarbeiter nach dem Beratungsprozess sein Gehalt selbstständig fest. Extrinsische Anreize wie variable leistungsabhängige Vergütung kommt laut Laloux in integralen evolutionären Unternehmen kaum vor, manche Unternehmen verteilten in erfolgreichen Jahren einen Teil des Erfolgs an die Mitarbeiter. Einige Unternehmen hätten von der Zahlung von Lohn zu Gehalt gewechselt. Das habe das Verantwortungsbewusstsein, die Initiative und den Stolz der Arbeiter und Arbeiterinnen gesteigert. Ein anderes Unternehmen hat das maximale Einkommen im Unternehmen auf das 14-Fache des niedrigsten Einkommens begrenzt. Laloux erwartet für die Zukunft noch weitreichendere Veränderungen, denn die durch die Abschaffung der Hierarchie entfallene Pyramide in der Führung sei auf der Gehaltsseite noch vorhanden. Deshalb stellt Laloux als Alternative gegenüber, dass alle Mitarbeiter gleich bezahlt werden, denn wenn alle Kollegen als gleichwertig betrachtet würden, sollten sie auch finanziell gleichermaßen wertgeschätzt werden.

Ganzheitlichkeit

Ganzheitlichkeit sieht Laloux nach der Selbstorganisation als die zweite wichtige Eigenschaft von integralen evolutionären Unternehmen an. Die „Gefühle und die Seele“ der Mitarbeiter würden in traditionellen Unternehmen am Arbeitsplatz nicht geschätzt und hinter einer Maske versteckt, dies macht er auch am Beispiel einer Uniform deutlich. Dadurch seien diese Unternehmen „seelenlose Orte“. Selbstorganisation helfe, sich ganzheitlicher zu zeigen, denn durch die reduzierte Notwendigkeit sich nach oben hin zu präsentieren, entfalle auch ein Teil des Nutzens der Maske.

Auch die Beziehung innerhalb des Unternehmens verändere sich, so erklärt Laloux vergleichbar mit der Transaktionsanalyse von Berne (1961), dass sich in selbstorganisierten Organisationen die Beziehung von einer Eltern-Kind-Beziehung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern hin zu einer Beziehung zwischen Erwachsenen entwickelt.

Evolutionärer Sinn

Laloux führt aus, dass Wettbewerb für die untersuchten Unternehmen keine zentrale Rolle spielt, denn „wenn eine Organisation für ihren Sinn lebt, gibt es keine Konkurrenz“. Auch die Shareholder Perspektive sei bei diesen Unternehmen nicht zu finden, für Gewinn und Größe gelte: „Gewinn ist notwendig, aber das Ziel ist der Sinn und nicht der Profit“. 

Da diese Unternehmen ihre Entscheidungen nicht nur auf Basis von Marktanteil und Profit Aspekten treffen, brauchen sie ein anderes Entscheidungskriterium. Das nennt Laloux den „Evolutionären Sinn des Unternehmens“. Das ist kein festgelegter Zweck, sondern ein sich ständig entwickelnder Sinn, denn durch Selbstmanagement könne jeder Mitarbeiter zum Sensor des Unternehmens werden und Entwicklung initiieren. Wenn es wichtige Entscheidungen zu treffen gibt, könnten Gruppenprozesse wie die „Theory U“ von Scharmer (2007) zum Einsatz kommen, bei denen das „ganze System“ beteiligt wird, also interne und externe Betroffene. So ist Strategie nach Laloux nicht mehr eine Frage von wenigen Köpfen an der Spitze: „Eine ganze Organisation wird mobilisiert, um die Zukunft zu spüren und diese Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen“. Die Strategie entstehe: „organisch, jederzeit und überall, wenn die Menschen mit Ideen experimentieren und sie in der Praxis testen“.

Laloux erklärt, dass das Unternehmen FAVI versuche zu handeln wie ein Bauer: „20 Jahre nach vorne schauen und nur für den nächsten Tag planen“. Denn Vorhersagen seien nur in einer komplizierten Welt wertvoll, „in einer komplexen Welt verlieren sie jede Relevanz“.

Einordnung der Phase

Diese Phase ist geprägt durch die Entscheidungshoheit aller Mitarbeiter. Sie ist insofern hierarchiefrei, als keiner die Entscheidungen eines Mitarbeiters vorgeben kann. Sie ist nicht hierarchiefrei, wenn man darunter versteht, dass jeder alles entscheiden darf, denn die Entscheidungshoheit betrifft den jeweiligen Aufgabenbereich. Auch innerhalb des eignen Entscheidungsbereiches muss ein Gremium oder ein Beratungsprozess der Entscheidung vorgeschaltet werden. Die wichtigen Entscheidungen sollten in der Hierarchiefreien-Phase am besten immer von Gruppen getroffen werden.

 

In dieser Phase ist die unternehmensinterne Hierarchie überwunden, die Betrachtung der Unternehmensgrenzen und der Supply-Chain ist aber noch recht traditionell. Es gibt einen Leistungsersteller, es gibt Lieferanten und es gibt Kunden, die alle weitgehend selbstständig und unabhängig sind. Das heißt die Hierarchie in der Supply-Chain wächst im Vergleich mit der Assoziationsphase wieder.


Aristoteles beschrieb eine ähnliche Situation mit der Politie.


Diese soziale Struktur im Unternehmen dieser Phase ist mit dem Alter eines Menschen von 50-70 Jahren vergleichbar.



Die Krise der Phase

Unternehmen dieser Phase kommen in die Krise, weil sie das Interesse auf eine eng begrenzte Interpretation der Aufgaben konzentrieren, man neigt dazu, sich zu isolieren. Diese Form der zentralen Leistungserstellung gerät an ihre Grenzen, wenn durch die effiziente Zusammenarbeit im Unternehmen das Bedürfnis nach einer noch weitergehenden Einbeziehung der Lieferanten und Kunden entsteht. Diese Entwicklung ist inhärent, weil die Grenze zwischen Innen und Außen des Unternehmens - zwischen Unternehmen und seinen Lieferanten und dem Unternehmen und seinen Kunden - nur theoretisch eindeutig, in der Praxis aber fließend ist.

Mit dem Grundverständnis der Beteiligung der Betroffenen ergibt es keinen Sinn, die Kunden nicht in die Leistungserstellung miteinzubeziehen. Das heißt, sie zunächst beratend einzubeziehen und schließlich Schritt für Schritt zum Entscheider zu machen.

 

Am Beispiel des von Laloux beschriebenen holländischen Pflegedienstes Buurtzorg möchte ich diese Krise auf Kundenseite skizzieren. Bei einem Pflegedienst erstellen die Mitarbeiter ihre Dienstleistung am Kunden, der Kunde ist dabei meist sogar körperlich in die Leistungserstellung eingebunden und hat dadurch Expertise. Die Expertise der Beteiligten einzubinden ist das Grundverständnis hierarchiefreier Organisationen. Es ergibt sich also aus der organisationseigenen Logik, dass der Patient mitentscheiden kann. Hier intensiviert sich die Beteiligung Schritt für Schritt. Zuerst kann der Patient die Behandlung mitentscheiden, dann die behandelnde Krankenschwester mitbestimmen und anschließend wird er am Einstellungsprozess neuer Krankenschwestern beteiligt. Damit entwickelt sich die Phase der hierarchiefreien Unternehmen ihrer eigenen Logik folgend hin zu einer Phase der hierarchiefreien Supply-Chain.