1. Die Pionierphase

In der Pionierphase nach Lievegoed und Glasl führen die Gründer und Eigentümer eines Unternehmens dieses autokratisch. Die besonderen Fähigkeiten, Erfahrungen und ihr charismatisches Auftreten verschaffen den Unternehmern Respekt und Anerkennung bei „ihren“ Mitarbeitenden. Der Unternehmer dieser Phase sieht die Mitarbeiter als „seine“ Leute an, um die er sich nach bestem Wissen und Gewissen kümmert - „bis in das Privatleben hinein“, indem er sonst übliche soziale Grenzen überschreitet.

 

Der Pionier kennt alle Tätigkeiten im Betrieb, weil er sie alle noch selbst verrichtet hat. So spricht er die Sprache der Mitarbeiter und weiß, auf was es ankommt. Die Kommunikation im Pionierbetrieb ist direkt und somit vergibt der Chef oder die Chefin Aufträge direkt an die unterste Ebene ohne Berücksichtigung etwaiger Vorgesetzter. Da sich im Unternehmen der Pionierphase alle kennen, wird diese Führungsstruktur nicht als problematisch betrachtet. Formale Kommunikation und Regeln sucht man vergebens, so wird auf Stellenbeschreibungen, Funktionsbeschreibungen oder Ablaufbeschreibungen weitgehend verzichtet. Organisiert wird mit Excel, ein ERP System gibt es nicht oder nur rudimentär. Das Unternehmen ist geprägt durch flache Hierarchien. Da der Pionier die meisten Entscheidungen selbst trifft, gehen auch Erneuerungen von der Spitze aus.

 

Den Organisationsstil beschreibt Lievegoed als „personenbezogen“. Aufgaben, die dem Pionier oder den Mitarbeitern liegen, machen sie selbst, andere werden an Kollegen abgegeben oder nicht erledigt. So entstehen flexible Aufgabenabgrenzung und hohe Arbeitsmotivation.

Versucht man ein Organisationsschema der bestehenden Situation aufzuzeichnen, so erhält man ein „Wirrwarr von Linien“ Die Einstellung neuer Mitarbeiter übernimmt der Chef persönlich, er wählt sie weniger nach Qualifikation als nach dem „gewissen Etwas“ aus: sie müssen in „die «Familie» passen“. Wer sich im Betrieb zuhause fühlt oder vom Unternehmer geschätzt wird, kommt weiter, wer das nicht tut, verschwindet wieder.

 

Folglich duldet ein Pionier-Unternehmer auch kein Management unter sich, das eigenständige Entscheidungen treffen könnte. Falls es doch ein Management gibt, ist es meist stark in der Kompetenz eingeschränkt. Um seine Vormachtstellung zu erhalten, verhindert der Pionier, dass „seine“ Mitarbeiter zu stark an Kompetenz gewinnen. Wird der Unternehmer von Mitarbeitern grundsätzlich in Frage gestellt, wird dies als Angriff erlebt und der Einfluss des Mitarbeiters eliminiert.

 

Der Unternehmer dieser Phase hat wenig Kenntnis über die Kosten bestimmter Arbeiten und Dienste und kennt auch den Deckungsbeitrag nicht, der durch die Erfüllung eines Auftrages erbracht wird. Es gibt eine starke Kundenorientierung, die bis ins Unwirtschaftliche gehen kann. Dies ist für den Pionier jedoch akzeptabel, so lange das Gesamtergebnis am Ende des Jahres stimmt. Der Unternehmer entscheidet tendenziell intuitiv, Kennzahlen spielen für ihn eine kleine Rolle und sind eher unbeliebt. Ein strukturiertes Controlling oder Management gibt es in Pionier-Unternehmen also nicht.

 

Hier gibt es das Buch „Dynamische Unternehmensentwicklung“ von Lievegoed und Glasl (1993) 


Einordnung der Phase

Ein Pionier ist als eine Person charakterisiert, die in ihren Kompetenzen und Fähigkeiten den anderen weit überlegen ist und der sich seine Rolle nach eigenem Ermessen selbst anpasst. Er ist Exekutive, Legislative und Judikative in Personalunion. Das zeigt sich auch in der Eigentumsstruktur am Unternehmen, es gehört meist den Unternehmern selbst. Oft hat es die Rechtsform einer GBR oder OHG, bei denen die Unternehmer als Vollhafter auch mit ihrem Privatvermögen haften.

 

Die Stärke des von Lievegoed beschriebenen Pionierbetriebes ist es, dass jeder Mitarbeiter die Ziele des Pioniers zu seinen eigenen macht. Deshalb ist es für den Erfolg des Betriebes notwendig, dass der Pionier-Unternehmer noch alle Arbeitnehmer und wichtigen Kunden kennt, der Produktionsprozess noch überschaubar ist und die Ziele des Unternehmers für die Mitarbeiter erkennbar sind. Damit das Erfahrungswissen des Pionier-Unternehmers bedeutsam bleibt, müssen Markt und Technik stabil bleiben. Das ist jedoch im Zeitalter der „Digitalen Transformation“ immer seltener der Fall. Damit wird diese Unternehmensform an Bedeutung verlieren.

 

Beispielunternehmen für diese Phase gibt es viele, denn es ist ein typischer Start für traditionelle Unternehmen. Strukturell sind viele der Handwerksbetriebe in dieser Phase, wenn dort der Meister den Lehrlingen in Kompetenz weit überlegen ist. Aber auch im Mittelstand scheint diese Unternehmensphase im Moment noch verbreitet.

 

Die Pionierphase kommt umso wahrscheinlicher in die Krise, je komplexer die Umwelt und je kleiner der Kompetenzvorsprung des Pioniers vor seinen Mitarbeitern wird. Als Instrument der Organisationsentwicklung könnte angemessen sein, die Mitarbeiter bei Problemen durch Fragen nach ihren Lösungsvorschlägen stärker in die Zusammenhänge und Verantwortung einzuführen.


Aristoteles beschrieb eine ähnliche Situation mit der Hauswirtschaft.


Diese soziale Struktur im Unternehmen der Pionierphase ist mit der Kindheit vergleichbar.



Die Krise der Phase

Die Aufgabe des Pionier-Unternehmers, Entscheidungen weitgehend selbst zu treffen, erfordert in einer komplexen Umwelt große Anstrengung. Lievegoed legt dar, dass der Pionier-Unternehmer einerseits mit zunehmender Größe des Unternehmens und der steigenden Komplexität der Unternehmensprozesse an seine Grenzen stößt, andererseits verliert er auch durch die wachsende praktische Erfahrung seiner Mitarbeiter an Kompetenzvorsprung und Legitimität. Lieferanten, Lieferantinnen und leitende Mitarbeiter gewinnen deshalb im Laufe der Zeit an Bedeutung. Wenn der Pionier-Unternehmer diesen Verlust an Respekt durch den Einsatz von Macht gegenüber seinen Mitarbeitern zu kompensieren versucht, erhöht sich das Krisenpotenzial.

 

Wenn die Pionier-Unternehmer dem Bedürfnis „ihrer“ Mitarbeiter nach Wertschätzung und Teilhabe nicht nachkommen, können gegenseitige Provokationen und eine innere oder tatsächliche Kündigung der Mitarbeiter folgen. Um den Unternehmenserfolg zu retten, muss ein Ersatz für Pionier-Entscheidungen gefunden werden. Gemäß Lievegoed und Glasl kann dies durch die Einführung von Regeln und Formalismen der wissenschaftlichen Unternehmensführung geschehen, um Pionier-Entscheidungen zu delegieren. Dadurch versuchen die Pioniere eine Revolution durch die Mitarbeiter abzuwenden und ihren Einfluss in „ihrem“ Unternehmen zu retten.